Chancen der Low-Risk-Anomalie

Weniger risikoreiche Aktien erzielen häufig höhere risikobereinigte Renditen – dieses Phänomen wird auch als Low-Risk-Anomalie bezeichnet. Doch ist diese Theorie auch heute noch gültig und welche Rolle spielt sie im aktuellen Marktumfeld?

Dr. Volker Flögel
Head of Research

Bevor wir diese Frage beantworten, benötigen wir Klarheit, was das aktuelle Marktumfeld betrifft. Die Daten von Robert Shiller auf der linken Seite von Abb. 1 zeigen, dass die reale Aktienrisikoprämie bei ca. 3 Prozent liegt – ein Wert deutlich unter dem langfristigen Durchschnitt von ca. 4,7 Prozent. Zusätzlich zu diesem niedrigen Wert sind die realen Zinsen negativ. Die Inflationserwartung liegt aktuell bei ca. 2 Prozent und damit nur leicht unter dem historischen Wert. Aufgrund der niedrigen Aktienrisikoprämie und der niedrigen realen Zinsen befinden wir uns in einem Umfeld niedriger Renditeerwartungen, die mit ca. 4,5 Prozent nur halb so hoch sind wie im historischen Durchschnitt.

Wir möchten fünf häufig angebrachte Argumente für die Low-Risk-Anomalie hinterfragen und analysieren, ob sie im gegenwärtigen Umfeld niedriger Renditeerwartungen noch relevant sind.

Niedrige Renditeerwartungen aufgrund unterdurchschnittlicher Aktienrisikoprämie und niedriger Zinssätze
Quelle: Robert Shiller Online Data (yale.edu). Die CAPE-Überschussrendite ist definiert als die zyklisch bereinigte Gewinnrendite abzüglich des 10-jährigen Realzinses.
Quelle: Robert Shiller Online Data (yale.edu). Die CAPE-Überschussrendite ist definiert als die zyklisch bereinigte Gewinnrendite abzüglich des 10-jährigen Realzinses.
ARGUMENT 1: Leverage Constraints

Die meisten Anleger können ihr Portfolio nicht hebeln und verfolgen daher eine Long-Only-Strategie. Hat ein Anleger jedoch z. B. eine feste Zielrendite von 7 Prozent, die er mit einem Aktieninvestment erreichen möchte, kann er diese in einem Umfeld mit niedriger Renditeerwartung nur realisieren, indem er auf ein riskantes Portfolio mit einem Beta von 1,8 setzt. Aktien mit niedrigem Risiko sind in diesen Portfolios nicht vertreten – auch dann nicht, wenn sie unterbewertet sind. Das ist eine Chance für das weitere Bestehen der Low-Risk-Anomalie im aktuellen Umfeld.

ARGUMENT 2: Compounding-Effekt

Der Compounding-Effekt wird bedeutender, je niedriger die Renditeerwartungen sind, da er relativ gesehen eine stärkere Auswirkung auf die Gesamtrendite hat. Haben zwei Aktien die gleiche durchschnittliche Renditeerwartung und werden für mehrere Perioden gehalten, wird die Aktie mit der geringeren Volatilität den höheren akkumulierten Return aufweisen. Dieser Effekt wird auch als Volatility Drag bezeichnet. Bei gleicher arithmetischer Rendite ist in dem Umfeld mit niedriger Renditeerwartung die geometrische Rendite einer Aktie mit 9,5 Prozent Volatilität um ca. 20 Prozent höher als die Rendite einer Aktie mit 15 Prozent Volatilität. Auch dieses Argument spricht weiterhin für den Low-Risk-Stil.

ARGUMENT 3: Informations-Ineffizienz

Abb. 2 stellt drei Faktoren zum Messen der Aufmerksamkeit, die Low- im Vergleich zu High-Volatility-Werten erhalten, dar. Alle Faktoren sind im Durchschnitt negativ und damit weniger stark ausgeprägt als bei High-Volatility-Aktien. Das ist ein Zeichen dafür, dass dieses Marktsegment wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Somit ist es ebenfalls sehr wahrscheinlich, dass Informationen nicht so schnell verarbeitet werden wie bei High-Risk-Aktien und Ineffizienzen dementsprechend besser nutzbar sind. In Zeiten fallender Märkte schwächt sich dieses Bild ab. Low-Risk-Aktien gelten dann als sicherer Hafen und bekommen vergleichsweise mehr Aufmerksamkeit von Investoren. Aktuell sind wir jedoch in einer Phase niedriger Aufmerksamkeit für Low-Risk-Aktien. Auch dieses Argument für Low-Risk-Investitionen hat also weiterhin Bestand.

Aktien mit geringer Volatilität werden vom Markt weiterhin kaum beachtet
Quelle: Datastream, Morningstar, IBES, own calculations. Der Prozentanteil der Analysten, die ihre Prognosen ändern, ist der 12-Monats-Durchschnitt der Anzahl der monatlichen Prognosenänderungen im Verhältnis zur Anzahl der Prognosen. Der Umsatz wird als Anzahl der gehandelten Aktien im Verhältnis zum Streubesitz der ausstehenden Aktien berechnet. Der Crowding-Indikator ist ein zusammengesetztes Maß, das die Bestände von Investmentfonds sowie Preis- und Volumendaten verwendet, um festzustellen, ob eine Aktie crowded ist oder nicht. Das Engagement wird für das Quintil mit der niedrigsten Volatilität angezeigt. Das Aktienuniversum umfasst alle Aktien aus dem MSCI-Standardindex in den entwickelten Ländern Europas, Nordamerikas und Japans.
ARGUMENT 4: Behavioural Finance

Untersuchungen zeigen, dass manche Investorengruppen Aktien mit lotterieähnlichem Verhalten bevorzugen – also Werte, die seltene, aber dafür hohe Gewinne aufweisen. Existiert diese Präferenz für sogenannte „Lottery Stocks“, werden die Preise dieser Aktien nach oben getrieben, was eine Verringerung der zu erwartenden Rendite bedeutet. In unserer Berechnung haben wir dafür die 20 Prozent der Aktien betrachtet, die im vorherigen Monat die höchste Rendite aufwiesen. Eine Strategie, welche in jedem Monat diese 20 Prozent Gewinner des Vormonats kauft, erzielt im Durchschnitt eine Underperformance von ca. 3,5 Prozent im Jahr. Im Jahr 2020 zeigte sich eine Rendite von über 20 Prozent. Ein Wert, der seit 1991 nicht erzielt wurde. Spekulative Investoren haben die Märkte und insbesondere „Lottery Stocks“ 2020 angetrieben, aber basiert auf historischen Beobachtungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass dieser Effekt lange andauern wird. Auch hier sehen wir ein weiteres Argument, gerade jetzt auf eine Low Risk-Strategie zu setzen, welche nicht in die teuren „Lottery Stocks“ investiert.

ARGUMENT 5: Zinsen

Seit 35 Jahren erleben wir sinkende Zinsen. US-Zinsen haben 1981 ihren letzten Höchststand erreicht und sind seitdem kontinuierlich gesunken. Abb. 3 zeigt für verschiedene Phasen, wie Low-Volatility-Aktien im Vergleich zum Markt abgeschnitten haben. Low-Volatility-Aktien haben vor 1981 bei steigenden Zinsen zur Underperformance tendiert. Diese ist überwiegend auf die Zeit nach 1976 zurückzuführen, in der die Inflation bei 10 Prozent pro Jahr lag und die Zinsen um ca. 8 Prozent gestiegen sind. Im Vergleich dazu liegt die Inflationserwartung aktuell bei moderaten 2,3 Prozent. Sorgen um das Zinsargument in Zusammenhang mit Low-Risk-Strategien können derzeit also vernachlässigt werden. Vielmehr bieten sich risikoarme Aktien als Alternative zu Anleihen im Niedrigzinsumfeld an und sind risikoadjustiert langfristig vorteilhaft gegenüber High-Risk-Werten.

Nur bei extremer Inflation tendiert Low Volatility zur Underperformance
Fazit: Argumente auch heute noch gültig – Low-Risk-Werte mit langfristig höherer risikoadjustierter Rendite

Die theoretische Basis der Low-Risk-Anomalie gilt auch heute noch.

Fazit: Argumente auch heute noch gültig – Low-Risk-Werte mit langfristig höherer risikoadjustierter Rendite

Wir erleben eine hohe Liquidität, die in allen Anlageklassen zur Asset-Price-Inflation führt. Die Märkte erreichen historische Höchststände. Vor allem Technologie- und Wachstumswerte haben 2020 außergewöhnlich positiv performt.

Fazit: Argumente auch heute noch gültig – Low-Risk-Werte mit langfristig höherer risikoadjustierter Rendite

Die historischen Daten sprechen dafür, dass sich das extreme Wachstum des Growth-Stils verlangsamen wird – erste Anzeichen dafür sind heute schon zu erkennen.

Fazit: Argumente auch heute noch gültig – Low-Risk-Werte mit langfristig höherer risikoadjustierter Rendite

Dennoch bleiben Aktien eine der besten Anlageoptionen im Niedrigzinsumfeld. Low-Volatility-Werte sind vor allem geeignet, wenn langfristig ein gutes Rendite-Risiko-Verhältnis angestrebt wird.