Warum fallen die US-Zinsen seit April 2021? Ein Faktencheck.
Entgegen den Erwartungen vieler Marktteilnehmer sind die US-Zinsen seit Ende Q1/2021 deutlich zurückgegangen, obwohl die Makrozahlen in den USA steigende Zinsen erwarten ließen. Am Markt wurden dafür eine Reihe von Gründen diskutiert, die wir näher beleuchten wollen.
Dr. Harald Henke
Head of Fixed Income
Verlauf zehnjähriger US-Zinsen im Jahr 2021
Höchststand im ersten Quartal
Zehnjährige US-Treasuries waren in Q1/2021 starkem Verkaufsdruck ausgesetzt. Entsprechend stieg die Rendite dieser Papiere von 0,91% zu Jahresbeginn auf ein Hoch von 1,74% am 31.03.2021.
Nach dem Sieg der Demokraten erlangte die Partei die Kontrolle über alle Kammern des Parlaments, was Erwartungen eines umfangreichen Fiskalpakets zur Konjunkturstimulation weckte. Ähnlich wie vier Jahre zuvor bei der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten fielen die Kurse von Staatsanleihen deutlich. Begründet wurde dies von Marktteilnehmern mit steigenden Inflationserwartungen und einer sich erholenden Konjunktur.
Rückwärtsgang eingelegt
Allerdings stellte der 31.03.2021 den bisherigen Höchststand der US-Zinsen für das Jahr 2021 dar.
- Seit Anfang April haben sich die Anleihekurse erholt und die Zinsen entsprechend den Rückwärtsgang eingelegt. Die zehnjährige Treasuryrendite fiel bis auf 1,12% und stand per 31.08.2021 bei 1,31%.
- Dies ist umso überraschender, als die in Q1 genannten Gründe sich tatsächlich materialisierten. Die US-Inflationsrate stieg auf ein Vieljahres-Hoch von 5,4% und das Wirtschaftswachstum stand in Q2 bei annualisierten 6,6%.
- Diese Zahlen sind zwar durch Basiseffekte in Q2/2020 nach oben verzerrt, dennoch ist ein robustes Wirtschaftswachstum in den USA zu verzeichnen.
Warum haben die US-Zinsen seit Ende März also dermaßen stark korrigiert?
Inflation als erste Vermutung
Ein häufig am Markt gehörtes Argument ist, dass Marktteilnehmer in Q2 begannen, die Fed-Einschätzung zu teilen, dass die aktuellen Inflationszahlen nur temporär sind und von der Zentralbank schon bald auf ein normales Niveau zurückgebracht werden.
Was diese Änderung in der Einschätzung hervorgerufen haben soll angesichts hoher Inflationszahlen, pandemiebedingter Verwerfungen in globalen Lieferketten und einer Rallye an den Rohstoffmärkten, bleibt allerdings unklar.
Zudem hat sich die erwartete Fünfjahres-Break Even-Inflation seit Ende März von 2,27% auf 2,21% kaum verändert.
War die Deltavariante relevant?
Eine andere Erklärung sah die Ursache in der Ausbreitung der Deltavariante von Covid-19 und potentiell negativen Auswirkungen auf das globale Wirtschaftswachstum, wobei dieser Zusammenhang bisher noch nicht gesichert erscheint, auch wenn sich PMI-Indizes seit März im Einklang mit den Zinsen auf hohem Niveau eingetrübt haben. Zudem scheint die Infektionswelle in einigen Ländern zurückzugehen und die Hospitalisierungs- und Todeszahlen blieben trotz des Anstiegs der Infektionen niedrig.
Ein Faktencheck
Tatsächlich sind die Erklärungen für Marktbewegungen oft Vermutungen, die zumeist post factum aufgestellt werden und sich höchstens mit Indizien belegen lassen. Ob die gängigsten und verbreitetsten Begründungen immer die zutreffenden sind, ist unklar. Daher sollen hier weitere Erklärungen diskutiert werden, die in den letzten Wochen und Monaten von Marktbeobachtern geäußert wurden:
1. Short Covering
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Argument
Verschiedene Analysten berichteten, dass Investoren zu Beginn des zweiten Quartals eine sehr negative Sicht auf den US-Zinsmarkt hatten und entsprechend short positioniert waren, um auf weiter fallende Anleihekurse zu wetten oder sich dagegen zu hedgen. Als sich in Q2 diese Erwartung nicht erfüllte, wurden Teile dieser Short-Positionen geschlossen, was die Anleihekurse unterstützt hat.
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Konsequenzen
Wenn dieses Argument der Hauptgrund für den Zinsrückgang seit Ende des ersten Quartals 2021 ist, dann ist die Bewegung vor allem technischer Natur. Sobald die Positionierung auf ein normales Niveau zurückgegangen ist, sollten Wachstums- und Inflationsentwicklung vorbehaltlich einer Fortsetzung des aktuellen Trends die Zinsen wieder nach oben treiben. In diesem Fall wäre die Marktbewegung nur eine zwischenzeitliche Korrektur aufgrund extremer Positionierung der Marktteilnehmer, die aber nichts am langfristigen Aufwärtstrend der Zinsen ändert.
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Kritik
Es ist bekannt, dass extreme Positionierungen oft Vorboten heftiger Marktbewegungen in die entgegengesetzte Richtung sein können. Wenn sich die Markteinschätzung ändert, kann dies eine starke Bewegung aufgrund von Eindeckungen aktiver Positionen und Repositionierung auslösen.
Allerdings erklärt dieses Argument nicht, warum es zu solch einer Änderung der Erwartungen gekommen ist.
Da Daten zur Positionierung von Marktteilnehmern nicht einfach verfügbar sind, lässt sich die Repositionierung von Marktteilnehmern indirekt daran ablesen, dass offene Futures-Positionen geschlossen werden und sich das ausstehende Volumen am Futures-Markt („Open Interest“) entsprechend reduziert.
Abbildung 2 zeigt, dass das Volumen an ausstehenden zehnjährigen US-Treasury-Kontrakten zwar zurückgegangen ist, dies aber mit achtwöchigem zeitlichem Nachlauf zu den Zinsen erfolgt ist. Es sieht so aus, als hätte sich die Positionierung an die veränderten Bedingungen an den Märkten angepasst und nicht umgekehrt. Während eine Repositionierung sicherlich die Bewegung verstärkt haben kann, ist aus den Daten keine kausale Wirkung auf die Umkehr des Zinstrends ablesbar.
Open Interest in Zehnjahres-Treasury-Futures
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Worauf sollte man achten?
Wie verhalten sich die Positionierung der Marktteilnehmer und die Bewegung am Markt zueinander?
Ist der Zusammenhang zeitgleich oder eine zeitliche Differenz von einigen Wochen feststellbar?
Und wie ändert sich die Dynamik, wenn die Marktteilnehmer die extreme Positionierung abgebaut haben?
2. Reduziertes Wachstumspotential
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Argument
Dieses Argument besagt, dass ein Anheben der Zinsen die US-Wirtschaft zurück in die Rezession befördern würde.
Pessimistischer Anleger glauben, dass sich über die vergangenen Jahre das Wachstumspotential der US-Wirtschaft reduziert und durch die Coronakrise und die Antwort der Politik darauf weiter Schaden genommen hat. Dieses Potential reflektiert sich in r*, dem neutralen Zinssatz, bei dem die Wirtschaft Vollbeschäftigung erreicht, ohne zu überhitzen oder sich abzukühlen.
Einige Marktteilnehmer glauben, dass angesichts großer struktureller Änderungen in der Wirtschaft, dem massiven Anstieg der Verschuldung und durch vor allem staatliche Stimuli getriebenem Wachstum dieser Zinssatz inzwischen so niedrig ist, dass kein nennenswerter Zinszyklus durch die Fed mehr zu erwarten ist. Abbildung 3 zeigt den längerfristigen Trend der US-Leitzinsen, der nach unten zeigt mit niedrigeren Zinshochs in jedem neuen Zyklus und wachsenden Abständen zwischen den Zyklen.
US-Leitzinsen seit 1990
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Konsequenzen
Wenn dieses Argument zutrifft, ist ein Überschwappen japanischer Zustände auch auf die USA zu erwarten mit deutlich niedrigeren Zinssätzen, flacheren Zinskurven und geringerer Dynamik. Leitzinsanhebungen finden seltener und später im Konjunkturzyklus statt oder werden vom Markt mit flacheren Kurven und fallenden langfristigen Zinsen quittiert. Andeutungen verschärfter Politikmaßnahmen lösen fallende Zinsen am langen Ende aus. Bestätigen lässt sich dieses Argument aber wohl nur langfristig.
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Kritik
Kritiker dieser Erklärung weisen darauf hin, dass ein solcher Fehler der Fed nicht zu den nach wie vor erhöhten Inflationserwartungen und rekordniedrigen Realzinsen passt. Auch weisen sie auf die höchsten Inflations- und Wachstumsraten seit vielen Jahren hin. Befürworter entgegnen darauf, dass hier von längerfristigen Entwicklungen die Rede ist, die nicht dadurch widerlegt werden, dass nach dem Ende der Rezession kurzfristig hohe Inflations- und Wachstumsraten realisiert werden.
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Worauf sollte man achten?
Wie reagieren langfristige Zinsen und die Kurvensteilheit bei Indikation einer Verschärfung der Geldpolitik? Wenn das Argument Gültigkeit hat, sollte die Ankündigung einer Verschärfung der Geldpolitik zu fallenden Zinsen am langen Ende und einer flacheren Kurve führen.
3. Collateral-Knappheit
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Argument
Ein weiteres Argument ist erhöhte Nachfrage nach den sichersten globalen Staatsanleihen aufgrund zunehmender Knappheit qualitativ hochwertiger Sicherheiten (Collateral) am Markt. Zum einen haben Zentralbanken im Rahmen der Pandemieprogramme im großen Stil Staatsanleihen aufgekauft, zum anderen hat die US-Regierung in diesem Jahr wenig neue Schulden aufgenommen aufgrund hoher Steuereinnahmen und der Reduktion der Bestände auf ihren Konten bei der Zentralbank bei gleichzeitig massiven Ausgabenprogrammen, die die Wirtschaft mit Geld fluten.
Zudem hat die Regierung zum 01.08.2021 erneut die Schuldengrenze erreicht und kann aktuell keine neuen Schulden aufnehmen, bis diese Grenze formal angehoben wird. Dies macht die vorhandenen Sicherheiten am Markt wertvoller und treibt ihre Rendite nach unten.
Gleichzeitig liefen in den USA im März Erleichterungen für Banken hinsichtlich benötigten Collaterals aus, die die US-Regierung ein Jahr zuvor im Rahmen der Corona-Krise temporär aufgehoben hatte. Dies hat seit März die Nachfrage nach Collateral deutlich erhöht. Da hochwertiges Collateral unter anderem am Repo-Markt benötigt wird, den viele Marktteilnehmer zur kurzfristigen Finanzierung nutzen, kann eine Jagd auf Collateral große Reaktionen in den Zinsen auslösen.
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Konsequenzen
Der Repo-Markt ist sehr groß und gleichzeitig intransparent. Daher ist es schwer, eine genaue Einschätzung abzugeben, wie hoch die Risiken aus der Knappheit von qualitativ hohem Collateral sind. Wenn diese große Dimensionen annimmt, kann dies zu plötzlichen und starken Rückgängen bei Zinsen führen und Zwangsliquidationen von Risikoassets auslösen. Wie hoch das Risiko für eine solche Reaktion ist, ist allerdings unklar.
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Kritik
Die Knappheit von Qualitäts-Collateral wird allgemein anerkannt. Fed-Chef Jerome Powell äußerte dies in einer Anhörung vor dem Congress, und die Financial Times verfasste dazu im Juli einen Artikel. Ein direkter Zusammenhang dürfte sich empirisch aber nur schwer nachweisen lassen. Zumindest erklärt das Argument aber, warum Investoren überschüssiges Cash in immer größeren Volumina in der Reverse Repo-Fazilität der Federal Reserve parken müssen.
Volumen in Reverse Repo-Operationen der Fed
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Worauf sollte man achten?
Die Situation wird sich wahrscheinlich nicht vor der erwarteten Anhebung der US-Schuldengrenze im Oktober oder November entspannen, wenn dann voraussichtlich wieder kurzfristige Schuldpapiere in größerem Umfang emittiert werden. Bis dahin kann man die Situation anhand der Nutzung der Reverse Repo-Fazilität eruieren.
4. Verkäufe von Großinvestoren aus Japan
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Argument
Ein ganz anderes Argument hat das Research von Morgan Stanley aufgebracht. Danach soll der Zinsanstieg in Q1/2021 vornehmlich durch Verkäufe großer japanischer Fonds zum Ende des japanischen Fiskaljahrs (zum 31.03. jeden Jahres) hervorgerufen worden sein. Die Analysten der Investmentbank wiesen darauf hin, dass der Großteil der Zinserhöhung in Q1 während der Öffnungszeiten in Tokyo zu verzeichnen war. Wenn japanische Institutionen im neuen Fiskaljahr ab 01.04. die nun deutlich höheren Renditen, steileren Kurven und niedrigen Hedgekosten für attraktiv erachtet haben, könnte auch der Rückgang der Zinsen vornehmlich durch Japan getrieben worden sein.
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Konsequenzen
Wenn die Zinsbewegung vor allem durch große Investoren aus einem Land, Japan, getrieben sein sollte, bedeutet das, dass alle vorgebrachten Erklärungen neu eingeschätzt werden müssen und bisher abgeleitete Erklärungen gegebenenfalls neu betrachtet werden müssen. Es würde auch bedeuten, dass einer der früher liquidesten Märkte überhaupt durch Zentralbankeingriffe so viel illiquider geworden ist, dass einzelne große Investoren über längere Zeit die Richtung des Marktes nachhaltig beeinflussen können.
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Kritik
Während unbestritten ist, dass große Investoren einen Einfluss auf die Preisbewegung an Märkten haben, so ist unklar, ob ein einzelner Investor Treasuries derart nachhaltig beeinflussen kann. In den letzten Jahren gab es immer wieder Quartale, in denen Russland oder China ihre Bestände in US-Treasuries deutlich reduziert haben, ohne dass sich dies in deutlichen Zinssteigerungen niederschlug. Es bleibt offen, ob die Liquidität seitdem so stark zurückgegangen ist, dass einzelne Investoren den Preis inzwischen spürbar treiben können.
Um festzustellen, ob der Zinsrückgang seit Anfang April durch japanische Investoren getrieben worden ist, kann man die Intraday-Zusammensetzung der Zinsbewegungen vom 01.04.2021 bis 31.08.2021 betrachten. Insgesamt fielen die zehnjährigen US-Zinsen um 0,44 Prozentpunkte. In den sechs Stunden, in denen der Markt in Tokyo geöffnet ist, trug der Markt 0,14 Prozentpunkte zu niedrigeren Zinsen bei, während in der übrigen Zeit die Treasury-Renditen um 0,3 Prozentpunkte zurückgingen. Dies entspricht ungefähr dem Verhältnis der Handelszeiten zueinander, sodass an den Preisbewegungen nicht unbedingt ein dominierender Einfluss Japans zu erkennen ist.
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Worauf sollte man achten?
Gibt es ein deutliches Auseinanderlaufen der Renditebewegungen über Nacht und während des Tages? Dies würde darauf hindeuten, dass asiatische Investoren den Markt in eine bestimmte Richtung treiben.
Ausblick
Die Diskussion zeigt, dass der Markt mit einer gewissen Ratlosigkeit auf die Zinsbewegung seit Anfang Q2/2021 geschaut hat, da diese dem vorherrschenden Narrativ am Markt widersprach. Entsprechend sind in den letzten Wochen zahlreiche weitere Erklärungsversuche aufgekommen, die versuchen, die Zinsrückgänge seit April zu erklären. Es ist wichtig zu betonen, dass keiner dieser Erklärungsansätze die anderen ausschließt und letztlich die Marktbewegung sich möglicherweise auch aus der Summe verschiedener Gründe zusammensetzt. Wenn man die einzelnen Aspekte beleuchtet, sieht man, woran man ablesen kann, ob eine Zinsänderung im Einklang mit der jeweiligen Erklärung steht. Das restliche Jahr an den Zinsmärkten verspricht viel Spannung.
1) „The horror scenario lurking in the plumbing of finance“, Financial Times, 24. Juli 2021