Marktkommentar Aktien: Ist hohe Volatilität das neue Normal?
Die Politik der Zentralbanken stand im 3. Quartal 2022 erneut im Fokus. Die Befürchtung, dass die Inflation ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, führte Mitte des Quartals zu einer radikalen Trendumkehr und zeigt, dass erhöhte Volatilität eine stärkere Streuung der Faktorrenditen zur Folge hat. Risikomanagement gewinnt an Bedeutung.
Mark Frielinghaus, CFA
Portfolio Manager Equities
Das 3. Quartal 2022 zeigte einmal mehr, wie vehement und kurzfristig Investmentstile scharfe Korrekturen einleiten. Das alles beherrschende Thema war die Zentralbankpolitik, konkret die Zinsanhebungen der US Fed und anderer Zentralbanken verbunden mit den Erwartungen an die mittelfristige Entwicklung der Inflationsraten. Während der Monat Juli von einer allgemein positiven Marktstimmung mit steigenden Aktienmärkten, rückläufigen Zinsniveaus und eher mäßigen Erwartungen bezüglich künftiger Leitzinserhöhungen geprägt war, fand im August ein radikaler Stimmungsumschwung statt. Im Wesentlichen war der Dreh- und Angelpunkt die Frage, ob die galoppierende Inflation ihren Höhepunkt nun bereits erreicht habe oder eben nicht. Dies wurde im Laufe des 3. Quartals von den Investoren höchst unterschiedlich beurteilt. Zu Quartalsbeginn bis Anfang August zustimmend, dann jedoch unter dem Einfluss verschiedener makroökonomischer Daten sowie durch die Kommunikation der obersten Währungshüter, insbesondere durch Jerome Powell, klar ablehnend. An dieser binären Fragestellung hat sich schließlich eine Kaskade an weiteren Entwicklungen an den Renten- und Aktienmärkten ergeben, mit wesentlichem Einfluss auf den Erfolg einzelner Investmentansätze sowie Investmentstile.
Faktorrenditen: Großer Teil der Volatilität bleibt unter der Oberfläche
Nachdem der europäische Aktienmarkt in den ersten 6 Wochen des Quartals mehr als 10% zulegen konnte, gaben die Märkte seit Mitte August bis Ende September ihre gesamten Kursgewinne wieder ab. Die Zinsentwicklung verlief spiegelverkehrt: Zunächst sanken die 10-jährigen Staatsanleiherenditen deutlich, in den USA auf 2,5% und in Deutschland auf 0,7%, bevor sie bis zum Quartalsende auf 3,6% bzw. 1,9% anstiegen. Diese massive Trendumkehr blieb nicht ohne Folgen für die Investmentstile sowie die Marktsegmente im Aktienmarkt.
In der Phase gedämpfter Inflationserwartungen konnten die Stile Growth und Quality bis Anfang August 4% gegenüber dem breiten Index gewinnen. Im Gegenzug gab der Value-Stil mehr als 3% relativ zum Index ab. Die außergewöhnlich hohe Bandbreite zwischen den Investmentstilen innerhalb eines solch kurzen Zeitraums wurde in der Folge aufgrund steigender Inflations- und Zinserwartungen kurz vor Quartalsende komplett geschlossen. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie kurzlebig Faktortrends sein können und wie viel Volatilität unter der Oberfläche bleibt, wenn man diese Renditezeitreihen in niedriger Frequenz, zum Beispiel auf Quartalsbasis, analysiert.
Neben den genannten Wachstumsfaktoren, die durch höhere Zinsen und der damit verbundenen Diskontierung künftiger Gewinne sowie einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums besonders leiden, gerieten auch kleinere und mittelgroße Unternehmen im August und September unter Druck. Im Gegensatz zu Growth und Quality zeigte der Size-Faktor eine deutlich schwächere Wertentwicklung und beendete das 3. Quartal mit einer Underperformance von 5%. Auch die Mischung verschiedener Stile gemessen am Multifaktor-Index entwickelte sich kontinuierlich schwächer als der Gesamtmarkt, besonders jedoch in der Phase fallender Märkte und wiederkehrender Rezessions- und Zinsängste.
Abbildung 1: Stilrenditen MSCI Europa, relativ, Q3
Es zeigt sich also, dass eine Phase, welche von kurzfristigen Trendbrüchen gekennzeichnet ist, die Wertentwicklung von Faktorstrategien negativ beeinflusst. Rückblickend wäre ein perfektes Timing von Stilfaktoren am erfolgversprechendsten gewesen, während ausgewogene Ansätze mit konstanter oder langfristig dynamischer Allokation zu Faktorstrategien unterdurchschnittlich blieben.
Höhere Streuung von Faktorrenditen durch erhöhte Marktnervosität
Weiterhin stellt sich die Frage, inwieweit die Faktorrenditen einer normalen Schwankung entsprechen oder ob die Streuung der Faktorrenditen in den letzten Jahren überdurchschnittlich hoch ist.
In einem 10-Jahres-Rückblick wird deutlich, dass die Faktorrenditen in den vergangenen 18 Monaten seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich stärker streuen als in den Jahren davor. Lediglich 2016, das Jahr des Brexits sowie der Trump-Wahl, bildet hier eine Ausnahme. Somit zeigt sich im gegenwärtigen Umfeld ein außergewöhnlich hohes Risiko für singuläre Faktorstrategien wie Momentum oder Value. Ist dies lediglich Ausdruck eines insgesamt gestiegenen Risikoniveaus an den Aktienmärkten oder ist die Streuung der Faktorrendite entkoppelt vom allgemeinen Risikoniveau der Aktienmärte angestiegen?
Um diese Frage zu beantworten, sehen wir nachfolgend den Vergleich der impliziten Volatilität europäischer Aktien, gemessen am Euro Stoxx 50-Volatilitätsindex, sowie der Faktorvolatilität für Gesamteuropa für die vergangenen 10 Jahre.
Abbildung 2: Faktorvolatilität und Aktienmarktvolatilität Europa Q3
Die Faktorvolatilität europäischer Aktien wird hierbei als gleichgewichteter Durchschnitt verschiedener Faktorstrategien in einem Long/Short Basket dargestellt. Die verwendeten Faktorstrategien beinhalten Value, Growth, Earnings Momentum, Preis-Momentum, Risk, Quality sowie Small Caps. Auffällig ist das unterschiedliche Verhalten in den Jahren vor 2020 sowie in den nachfolgenden 18 Monaten. Während die Volatilität des Marktes in den meisten Jahren kurzfristige Anstiege verzeichnete, war dies in den Schwankungen der Faktorrenditen deutlich geringer zu spüren. In der jüngeren Vergangenheit scheint sich die allgemeine Marktnervosität jedoch zunehmend in der Streuung der Faktorrenditen widerzuspiegeln.
Wegfall von Quantitative Easing treibt Inflation auf neue Höchststände
Was könnte also der Grund für diese unterschiedliche Risikosensitivität der Faktorrenditen zum allgemeinen Marktrisiko sein? Einerseits liegt es nahe, den Ausbruch der Corona-Pandemie und die Erholung aus dieser Krise als Ursachen hervorzuheben. Auch wenn diese Zusammenhänge intuitiv sind, scheint eine Ausweitung auf die zugrunde liegenden ökonomischen Veränderungen plausibler. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Phasen niedriger Faktorvolatilität (hier: 2012-2020) und der Phase hoher Faktorvolatilität (seit 2020) besteht in der Veränderung der Inflationsraten sowie als Konsequenz daraus der Zentralbankpolitik zur Erhaltung der Preisstabilität.
Im Verlauf der vergangenen 10 Jahre war das Quantitative Easing der Zentralbanken, welches insbesondere nach der Finanzmarktkrise 2008 aus der Taufe gehoben wurde, ein kontinuierlicher Stützpfeiler der Aktienmärkte. Zwar gab es immer wieder kurzfristige Einbrüche, verbunden mit Volatilitätsspitzen an den Aktienmärkten, allerdings waren diese meist von sehr kurzer Dauer – insbesondere im Vergleich zu den Krisen des letzten Jahrhunderts, der großen Depression, der Stagflation in den 1970er-Jahren oder der TMT-Blase Ende der 1990er-Jahre.
Zum einen sorgten die Zentralbanken für einen permanenten Zustrom an günstiger Liquidität und bauten ihre eigenen Bilanzen durch Wertpapierkäufe um ein Vielfaches auf. Zum anderen blieb die Liquiditätsflut nicht ohne Konsequenzen auf das Zinsniveau, welches sich mit geringer Schwankungsbreite in Richtung Nullzins bis in den negativen Bereich bewegte. Damit wurden riskante Aktienanlagen im Grunde alternativlos und statt einer regelmäßigen zyklischen Konjunkturentwicklung mit Auf- und Abschwüngen stellte sich ein Superzyklus wirtschaftlicher Expansion ein, der die Aktienmärkte zu liquiditäts- und sentimentgetriebenen Allzeithöchstständen führte.
Dieser säkulare Trend kehrte sich in den Jahren 2020/21 um. Erstmalig stiegen die Preisniveaus in sämtlichen Industrieländern deutlich. Ausgehend von den Energie- und Rohstoffmärkten, welche Preisanstiege von mehr als 100% verzeichneten, entwickelte sich ein Anstieg der globalen Inflationsraten bis in den zweistelligen Bereich. Entgegen der ursprünglichen Einschätzung der Zentralbanken, insbesondere der EZB, handelte es sich hierbei nicht um ein vorrübergehendes Phänomen im Rahmen der Corona-Lockdowns und dem anschließenden Re-Opening. Ganz im Gegenteil blieben die hohen Preissteigerungen auch im Jahr 2022 erhalten. Während sich in den USA die Inflation auf den Produktions- und Dienstleistungssektor ausweitete und eine Lohn-Preis-Spirale zumindest ermöglichte, blieben in Europa vor allem durch den Russland-Ukraine-Krieg die Energiepreise Haupttreiber der Veränderungsraten.
Fazit: Risikomanagement durch Diversifikation – für attraktive Renditen
- Das zurückliegende Quartal hat eindrucksvoll belegt, dass höhere Volatilität der Aktienmärkte auch anderthalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie zum neuen Normalzustand gehören. Insbesondere der langfristig stabile Trend sinkender Inflationsraten sowie fallender Zinsen scheint unumkehrbar vorbei.
- Diese gestiegene Unsicherheit durch den Wegfall der quantitativen Unterstützung durch die Zentralbanken wirkt sich auch auf die Volatilitäten der Investmentstrategien aus. Faktorrenditen scheinen deutlich kurzlebiger auf Veränderungen im Sentiment der Investoren, aber auch auf makroökonomische Daten zu reagieren. Je nachdem, welches Konjunkturszenario am wahrscheinlichsten ist, kehren sich relative Wertentwicklungen innerhalb weniger Tage um, was zu signifikanten Kursrückgängen führt. Insofern ist ein Risikomanagement auf Faktorebene derzeit noch wichtiger als in den Jahren zuvor.
- Einseitige Positionierungen sind nur dann erfolgversprechend, wenn sie innerhalb weniger Tage implementierbar und ausreichend gut prognostizierbar sind. Dies stellt für die Asset-Management-Branche eine enorme Herausforderung dar. Während einerseits die Suche nach Factor-Timing-Modellen weitergeht, empfiehlt es sich andererseits, auf eine ausgewogene Mischung verschiedener Stile und Investmentfaktoren zu setzen, um auch in unruhigen Zeiten eine attraktive Rendite zu erzielen.